Zwischen Polarmeer und Gletscherriesen

Skitourenträume in den Lyngenalpen in Norwegen

von Christian Neiger

Just als die Boeing zum Sinkflug auf das norwegische Städtchen Tromsö ansetzt, taucht die untergehende Polarsonne die Gegend um die Stadt in ein fast surreales Licht. Berge, oft weniger schroff als daheim in den Alpen, steigen hinter der Stadt direkt aus dem Meer empor, ebenmäßig weiß, bedeckt mit dem Stoff aus dem Ski-Träume sind. Das Meer mit seinen Fjorden und Buchten zwischen schneebedeckten und teils vergletscherten Kuppen, Graten, Rinnen und Rücken lässt alles so ganz anders aussehen als daheim, aber genau deshalb sind wir hier: Zwei Flugstunden von Oslo eröffnet sich dem Skitouren-Fan mit den Lyngenalpen ein Paradies.
Als wir früh um zwei die Hafenkneipe verlassen, ist es taghell. Bereits während der Weiterfahrt nach Lyngseidet, dem Hauptort der Lyngen-Halbinsel südlich von Tromsö, lassen sich die zahllosen Möglichkeiten erahnen. Unser Quartier, ein typisch norwegisches, dunkelrot holzvertäfeltes Haus, liegt direkt am Anlegesteg der Fischer, was neben dem großartigen Blick über den Lyngenfjord fangfrischen Fisch fürs Abendessen garantiert. Außerdem dient der Steg als Absprungrampe für die Abkühlung nach dem Saunagang.

Um 17 Uhr zur Eingehtour

Wir, also die Teilnehmer und die Bergführer der „steilen:welt“ aus Garmisch, kochen selbst. Restaurants oder Kneipen sucht man in Lyngseidet vergebens. Ungeduldig rücken wir am Ankunftstag dank der im Frühjahr kaum mehr untergehenden Sonne um 17 Uhr zur Eingehtour auf den Kavringtinden aus. Fünf Minuten Ski tragen, auffellen und los. Zuerst durch den lichten Birkenwald, dann über weitläufiges, mäßig steiles Big-Turn-Gelände, bevor der Kavringtinden sich mit einem steilen Gipfelhang und einem lang gezogenen Gratrücken, einem spektakulären Laufsteg hoch über dem Lyngenfjord, zur Wehr setzt. Ausblick und Stimmung am Gipfel sind atemberaubend, in Sachen Schnee profitieren wir von den üppigen Neuschneefällen der vergangenen Tage. Kurz in den westseitigen Gipfelhang ausgebüxt, ist die Abfahrt inklusive des Birkenslaloms zum Abschluss viel zu schnell vorbei. Um 21 Uhr sitzen wir beim Abendessen. Was für ein Auftakt.
Mit dem Store Kjostinden steht tags darauf eines der anspruchsvolleren Ziele auf dem Programm: Nicht nur, dass der Aufstieg teils über einen Gletscher führt, sondern auch der Gipfelanstieg nach dem steilen Schlusshang erfordert mehr als Schneestapfen. Aber alles ist weit im grünen Bereich. Vom Gipfel öffnet sich trotz schlechter werdenden Wetters der Blick auf weitere, versteckte Fjorde mit etlichen Couloirs und ebenso vielen Tourenmöglichkeiten – was für ein Spielplatz. Die Sicht wird schlechter, doch Bergführer Ulli Steiner schafft es noch, die ein oder andere Abfahrtsvariante einzubauen. Er beschert uns einen großartigen Tourentag mit rund 2000 Höhenmetern und westalpinen Dimensionen, obwohl das Höhenmetersammeln hier definitiv nicht an erster Stelle steht. Zur Belohnung geht es in die Sauna. Ulli demonstriert uns die Holzhammer-Methode des Saunagangs, bevor wir kollektiv für ordentlich Wasserverdrängung im eiskalten Lyngenfjord sorgen.
Bisher hat sich so ziemlich jedes Klischee über Skitouren im hohen Norden erfüllt: unberührte Natur, weitläufiges aber auch steiles Skigelände, genug Schnee mit viel Wasser rundherum. Der zweiten Gruppe, die mit Bergführer Peter Albert unterwegs war, scheint es, den strahlenden Gesichtern nach zu schließen, ähnlich gut ergangen zu sein.

Wetterumschwung

Ein weiteres Charakteristikum ist das schnell wechselnde Wetter: Zwischen gleißendem Sonnenlicht und Windstille bis zum völligen White-Out mit Wind in Orkanstärke dauert es mitunter nur Minuten. Und weil stürmischer Wind an der Küste nicht höchsten Abfahrtsgenuss verheißt, zieht es uns am folgenden Tag ins Hinterland nach Tamokdalen, ins einsame Tamok-Valley, wo die windgeschützteren Ziele auch bei Sauwetter Skitouren ermöglichen. Der Sjufellet soll es sein. Wieder lichter Birkenwald, gefolgt von steiler werdenden, weiten Hängen, die auf einem Gipfelplateau enden, umgeben von quergebänderten Felszylindern, die Abwechslung ins Landschaftsbild bringen – sofern man sie sieht.
Das ist bei uns irgendwann nicht mehr der Fall. Der Sturm zwingt zum Umdrehen, Schneeverfrachtungen erfordern umsichtiges Abfahren mit genau definierten Korridoren. Endlich tauchen die Birken aus der weißen Suppe auf, endlich ein Kontrast, um der Abfahrt noch ein paar gleichmäßige Schwünge mit den nicht zu schmalen Powderlatten abzuringen, Birkenslalom. Wieder an den Autos tauen die Gesichter auf, jetzt einen Rentier-Burger und ab in die Sauna.

Fjord-Hopping

Kjelvagtinden heißt das nächste Ziel. Zum Ausgangspunkt geht es diesmal via Fjord-Hopping mittels zweier Fähren, bevor wir direkt von der Fähre mit den Skiern losstiefeln. Hier scheint man noch mehr Wasser um sich zu haben, eine Schneeinsel im Polarmeer. Und wieder bieten die Nebengipfel weitere Abfahrtsvarianten, noch ein Aufstieg, noch mal ein Powderhang, bevor wir 50 Meter vom Meer die Ski abschnallen. Vorbei an Holzgestellen, an denen der Stockfisch zum Trocknen hängt, geht es auf ein Bier zur Kneipe am Fährhafen.
Die Aufzählung herausragender Tourenziele ließe sich lange fortführen, sei es der Daltinden mit seinem Talhatscher zu Beginn, der mächtige Istinden, der steile Store Jaegervasstinden, der beliebte Gillavari, der „Menschenfresser“ Sorbmegaisa oder die Mutter aller Lyngen-Skitouren, die Überschreitung des Gletscherriesen Jiekkevarri, mit knapp 2000 Metern höchster Gipfel der Lyngenalpen.

Überzeugendes Paket

Was das Skitourengehen hier ausmacht, ist das Gesamtpaket: die unvergleichliche Fjord-Landschaft, die Nähe zu unberührter Natur, Tourenmöglichkeiten aller Art – von der Extrem-Abfahrt durch ein steiles Couloir über den gemütlichen Nachmittagsspaziergang bis hin zur einsamen Ski-Durchquerung. Genauso faszinierend sind der Kontrast zwischen Schnee und Wasser, die ins Meer fließenden Gletscher, der frische Fisch, der obligatorische Saunagang, die nordische Gelassenheit und Gastfreundlichkeit, das raue Klima und und und … Ein bissl Wehmut macht sich schon breit als wir dieses Paradies hinter uns lassen.