Jeden Tag eine Überraschung

Alpenüberquerung mit dem Mountainbike von Murnau am Staffelsee nach Bozen

von Steffen Müller

Es gibt unzählige Möglichkeiten das Wagnis Alpencross mit dem Mountainbike in Angriff zu nehmen. Am besten schließt man sich einem professionellen Veranstalter an, der sich mit den Strecken und den Unterkünften auskennt  und im Idealfall auch noch das Gepäck per Shuttle ins nächste Hotel transportiert. Man kann sich aber auch - und darum geht es hier - von Tourenvorschlägen im Internet* inspirieren lassen, den 30-Liter-Rucksack packen und hoffen, dass sich am Ende der jeweiligen Etappe - respektive der eigenen Kräfte - noch ein freies Zimmer findet, quasi als Extraportion Abenteuer. Ein unvergessliches Erlebnis ist so oder so garantiert.

Eines vorab. So eine Tour ist, betreut oder nicht, kein Zuckerschlecken. Ordentliche Kondition und gutes Material sind Pflicht  Bergerfahrung und zumindest Grundkenntnisse in Sachen Fahrrad-Reparatur sind unerlässlich, wenn man sich ohne Führer auf den Weg macht.

Was die Streckenplanung betrifft, gibt es inzwischen unzählige Internet-Portale, die einem dabei behilflich sein können. Es sind viele Strecken und Etappen hinterlegt, die man herunterladen, selbst nach eigenen Bedürfnissen am Bildschirm mithilfe von topographischen Karten verändern, bearbeiten und auf das eigene GPS-Gerät laden kann. So gehen bei der Vorbereitung neben den vielen Trainingsstunden auch noch einige vor dem Bildschirm drauf  aber Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste.

Allerdings: man kann noch so gut planen, irgendetwas wirft den Plan ganz sicher durcheinander  und wenn es die Deutsche Bahn, beziehungsweise eine Überschwemmung oder einfach eine Baustelle ist. Tag eins soll eigentlich zum Einrollen dienen. Von Garmisch-Partenkirchen über Mittenwald bis nach Innsbruck soll es gehen. Bis im Zug die Durchsage ertönt: "Wegen einer Überschwemmung fährt dieser Zug heute nur bis Murnau am Staffelsee". Der Schienen-Ersatz-Bus ist schon voll bis unters Dach. "Na, dann fahren wir halt selbst", sagt Karlheinz Reichert, der mit dem Rad schon im Himalaya unterwegs war und den so ein paar Pfützen nicht schrecken können.

So beginnt die Alpenüberquerung eben schon ein paar Kilometer weiter nördlich und wird durch überflutete Wege gleich am Start einigermaßen abenteuerlich. Aber alles kein Problem, die Sonne scheint, die Richtung stimmt, die Räder laufen. Auch eine Unterkunft findet sich in der Tiroler Landeshauptstadt, direkt gegenüber vom Goldenen Dachl. Etappe zwei wird hart, das ist schon im Vorfeld klar. Dass eine Baustelle auf einer Nebenstraße, bei der uns der aufmerksame Bauarbeiter partout nicht passieren lassen will, aber dann auch noch für rund 500 Extra-Höhenmeter sorgt, macht sie mit insgesamt gut 3000 Höhenmetern zur Königetappe. Ein Höhepunkt ist der Blick vom Sattelberg über Tirol  inklusive Regenbogen  auf der einen und Südtirol auf der anderen Seite, nur noch übertroffen von der Abfahrt über die Brenner-Grenzkammstraße. Nebelschwaden und diffuses Licht machen die ohnehin schon morbide Szenerie der verfallenden Festungsanlagen entlang der alten Militärstraße noch beeindruckender.

Ganz nebenbei macht die scheinbar endlose Abfahrt auch noch richtig Spaß. Zum ersten Mal überhaupt habe ich an diesem Abend nach einer ausgewachsenen Pizza immer noch Hunger. Die Begeisterung sich am dritten Tag aufs Rad zu schwingen hält sich in Grenzen. Immerhin geht es erst mal durchs Etschtal bergab bis Brixen: "Lass uns heute eine kürzere Etappe machen", schlage ich vor. Da in St. Magdalena eine schöne Unterkunft frei ist und es einen schönen Weg abseits der Straßen zu geben scheint, nehmen wir die vermeintlich harmlosen 750 Höhenmeter in Angriff. Die sind dann auch relativ schnell geschafft. Nur geht aus dem engen Kessel in dem wir uns befinden kein Weg nach St. Magadalena. Der flüchtige Blick auf die Karte war etwas zu flüchtig. Also geht es weiter bergauf, inzwischen im Regen, aber irgendwann muss der Kessel ja enden. Irgendwann ist auf einer Passhöhe auf rund 1700 Meter, zur Belohnung für die Extra-Strapazen reißt der Himmel auf. Von da an geht es bergab bis zum Ziel einer doppelt lehrreichen Etappe. Lerneffekt eins: nimm dir mehr Zeit für die Karte, Lerneffekt zwei: "Wenn es regnet, bleibt man unter Nadelbäumen wesentlich länger trocken", sagt Kollege Reichert  und er hat Recht.

Shuttle-Service inklusive

In der Pension angekommen, teilt uns der Gastgeber mit, dass im Ort kein Restaurant geöffnet hat  nur 200 Höhenmeter weiter unten im Tal. Auf die entsetzten Gesichter reagiert er mit einem Lächeln und sagt: "Wir fahren euch runter ins Restaurant und holen euch nach dem Essen wieder ab", das gehört zum Service.

Wir kommen nicht mal ansatzweise auf die Idee, dieses Angebot auszuschlagen. Am nächsten Morgen geht es hinauf über die Gaisleralm, danach folgt eine längere Schiebe- und Tragepassage unterhalb der Mittagsscharte mit traumhaften Ausblicken auf die Dolomitenriesen. Weiter geht in Richtung Broglessattel und hinunter nach St. Christina in Gröden. Am nächsten Tag führt die Strecke über die Seiseralm und herrliche Trails nach Tiers. Von dort geht es auf einem steilen Schotterweg in Richtung Nigerpass (1688 Meter) hinauf - dem ersten von vier Pässen an diesem Tag, weiter führt der Weg vorbei am Karersee zum Karerpass (1745 Meter). Die Landschaft wird immer spektakulärer, das Wetter ist traumhaft und die Route ist trotz der vielen Höhenmeter wegen der guten Wege entspannt zu fahren. Jetzt geht es über den Skiort Obereggen hinauf zur Epircher Laneralm - das beeindruckende Latemarmassiv immer im Blick.

Nach einer Graupensuppe geht es, fit für die nächsten Aufgaben, weiter. Zunächst entspannt bergab, dann wieder hoch zum Lavazèpass (1800 Meter). Von der Hochebene, die im Winter ein Langlaufparadies ist, fällt der Blick auf das Schwarzhorn und das benachbarte Weißhorn. Den beiden Gipfeln nähern wir uns auf dem Weg zum nächsten Pass, dem Jochgrimm auf 1989 Meter. Von jetzt an werden nicht mehr die Oberschenkel, sondern die Arme und vor allem die Bremsbeläge massiv beansprucht. Rund 1000 Abfahrtszeit-Höhenmeter liegen auf dem Forstweg über Radein bis ins Tal nach San Lugano vor uns. Der Weg ist teilweise extrem steil und macht richtig Laune. Die Rast im Gasthof Unterhauser in Radein ist vor allem für die heißgelaufenen Bremsen wichtig - und für die ausgetrockneten Kehlen. Im Prinzip fast am Ziel - nach Bozen gelangt man problemlos über eine alte Bahntrasse, durch interessante Tunnel ins Etschtal und dann entlang der Etsch nach Norden - gibt es noch ein paar MTB-Tage im Fleimstal und rund ums Trudner Horn obendrauf. Die Gegend ist mit dem Mountainbike schon allein eine Reise wert.

Infos

*Die hier beschriebene Strecke orientiert sich zwischen Innsbruck und dem Jochgrimm an der Tour „Von Innsbruck über den Brenner, den Nigerpass und durch das Etschtal nach Torbole“ auf

www.outdooractive.com

von Hartmut Wimmer. Hier gibt es auch Vorschläge für viele weitere Strecken.
Außerdem findet man auf

www.alpenvereinaktiv.com

und weiteren Portalen Routenvorschläge für Alpenüberquerungen. Mehr zum Thema MTB-Alpencross, detaillierte Routeninfos, Techniktipps und noch viel mehr gibt es gedruckt in der Sommerausgabe von Abenteuer Alpen.