Die Schwarze Wand im weißen Kleid

Unterwegs in der Rieserfernergruppe im Nordosten Südtirols / Dreitausender fernab vom großen Trubel

von Steffen Müller

Wer an Südtirol denkt, dem kommen sofort die Dolomitenklassiker wie Marmolata, Drei Zinnen oder Rosengarten in den Sinn. Doch die autonome Provinz im Norden Italiens hat noch viel mehr zu bieten. In der Rieserfernergruppe im Nordosten warten herrliche Dreitausender und eine traumhafte Ruhe.

Bergführer Matthias Larcher aus Bruneck im Pustertal kennt das Gebiet wie seine Hosentasche. Die Gipfel sind zwar nicht so berühmt wie ihre Gegenüber in den schroffen Dolomiten. Sie sind aber keineswegs weniger attraktiv  und meist höher.

Der höchste Gipfel der Gruppe ist der Hochgall mit 3436 Metern, unser Ziel ist an diesem Junimorgen die Schwarze Wand mit 3105 Metern. "Diese Berge sind selbst in der Hochsaison nicht überlaufen", sagt Matthias Larcher. Er hat nicht zu viel versprochen. Auf den rund 14 Kilometern und 1500 Höhenmetern bergauf begegnen wir genau zwei Bergsteigern. Dem Schwager Larchers und seinem Begleiter, dem Trainer des örtlichen Fußballteams, der auch ein begeisterter Skitourengeher ist.

Der fragt: "Wo gehts denn hin?". Larcher antwortet: "Auf die Schwarze Wand." Sein Gegenüber nickt: "Das trifft sich gut. Ich hab im Winter ein Tourenfell am Gipfelkreuz vergessen. Schaut doch mal, ob es noch da ist."

Es ist noch früh in der Saison für diese Region, schließlich geht es hinauf auf über 3100 Meter: "Wahrscheinlich war seit Ende der Skitourensaison noch niemand auf dem Gipfel", sagt Larcher. Uns erwartet also ein exklusives Erlebnis  und dazu möglicherweise noch ein vergessenes Tourenfell.

Der Weg führt durch ein traumhaftes Hochtal. Im Vordergrund ein ausgedehntes Schneefeld und die dunkel schimmernden Felsriesen. Der Name Schwarze Wand geht auf das dunkle Gneisgestein zurück, aus dem der südlichste 3000er der Rieserfernergruppe besteht.

Im Reich der Murmeltiere

Die Tour ist abwechslungsreich und bietet von Forstwegen und Wiesenpfaden über je nach Jahreszeit mehr oder weniger große Schneefelder und leichte Kletterei fast alles, was das Herz begehrt. Ein Spaziergang ist die Unternehmung nicht. 1500 Höhenmeter sind schon ein Wort und der Aufstieg auf Schnee und Fels fordert ordentliche Kondition und Schwindelfreiheit. Gemütliche Touren sind in der Rieserfernergruppe ohnehin eher die Ausnahme. Liftunterstützung gibt es nicht.

"Diese Gegend ist eine perfekte Alternative für alle, die dem großen Trubel aus dem Weg gehen wollen", sagt Matthias Larcher, der schon früh den Wunsch hatte, Bergführer zu werden: "Ich bin mit meinem Vater sehr oft in den Bergen gewesen. Da war mir schon klar, dass ich das später mal machen will."

Komplett auf das Saisongeschäft eines Bergführers will sich der Südtiroler nicht verlassen: "Ich führe rund 120 Touren im Jahr. Sonst bin ich Lehrer", sagt Larcher  unterbrochen vom Pfiff eines Murmeltiers. Denen begegnet man hier oben zuhauf. Larcher ist als Führer sommers wie winters praktisch in den gesamten Alpen unterwegs. Einen Lieblingsberg hat er nicht, auch wenn die Dolomiten nach wie vor eine große Faszination auf ihn ausüben.

Der Aufstieg wird trotz kühler Temperaturen immer Schweiß treibender  und zwar wegen des Schnees. Der Untergrund ist mal tragfähig, mal sacken die Stiefel durch, mal ist er griffig, mal schmierig. Diesen Gipfel gibt es an diesem Tag nicht geschenkt. Umso schöner.

Nach 600 Höhenmetern auf Schnee folgen das Mühlbacher Jöchl (2983 Meter) und von ihm die letzten Meter bis zum Gipfel auf wechselndem Untergrund. Schnee, Fels, mal brüchig, mal massiv, wechseln sich ab. Auch leichte Kletterei ist dabei. Das Wetter will nicht so recht mitspielen. Der Gipfel ist in Wolken, die Sicht tendiert gegen Null  nur eines ist zu erkennen: Das vergessene Tourenfell liegt am Fuß des Gipfelkreuzes. Das entschädigt locker für die ausgefallene Fernsicht. "Der Blick von hier oben ist traumhaft", sagt Larcher, "normalerweise." Ich glaube ihm aufs Wort.

Beim Abstieg, der geht dank einer mehr oder weniger rasanten Rutschpartie über das Schneefeld ungefähr dreimal so schnell, machen die Wolken der Sonne Platz und geben einen herrlichen Blick frei. Weiter unten warten blühende Alpenrosen und  trotz der Tatsache, dass das Gebiet nicht überlaufen ist, wunderbare Einkehrmöglichkeiten. Von der urigen Huberalm auf 1852 Meter bis hinunter zum Gasthof Mühlbacher Badl  hier gibt es für müde Wanderer-Beine sogar ein Wellnessangebot.